Format: Artikel – Schreibfeder auf dem Tisch
Artikel

Entfremdung in der Liebe

Autorin - Melanie Schüer

„Wir liegen zwar jede Nacht nebeneinander, doch innerlich sind wir meilenweit voneinander entfernt.“ 
„Wir haben uns einfach nichts mehr zu sagen.“ 
So oder so ähnlich beschreiben viele Paare ihre Unzufriedenheit über eine Entwicklung in der Beziehung, die auch als Entfremdung bezeichnet wird. Wenn du dieses Gefühl ebenfalls empfindest oder erste Alarmzeichen für diese Entwicklung siehst, möchten wir dir in diesem Artikel ein paar Tipps geben, wie du der Entfremdung von deinem Partner entgegensteuern kannst. 

Lesezeit: Etwa 5 Minuten
Mann und Frau sitzen entfremdet im Bett

Beziehungen verändern sich - und damit die Liebe

Das Gefühl, einander nicht mehr nahe zu sein, kann auf verschiedenen Ebene entstehen – emotional oder sexuell, meist sind aber beide Bereiche mehr oder weniger betroffen, weil sie einander stark beeinflussen.
In ihrem sehr empfehlenswerten Buch „Wild Life. Die Rückkehr der Erotik in die Liebe“ erklärt Esther Perel, dass Nähe und Intimität nichts Statisches ist. Oft begehen wir den Fehler, anzunehmen, dass Nähe, die einmal zwischen zwei Menschen bestanden hat, nun für alle Zeiten gesichert ist. Doch tatsächlich machen wir die Erfahrung, dass auch Beziehungen wie Freundschaften oder familiäre Beziehungen immer wieder Wandlungsprozesse durchlaufen. Freundinnen erleben Phasen, in denen sie täglich telefonieren und solche, in denen sich nur ein paar Mal pro Jahr kurz voneinander hören und auch die Nähe zu den Eltern oder zwischen Geschwistern verändert sich oft im Laufe des Lebens. 

Lebendige Beziehungen erfordern Arbeit

Diese Wandlungsprozesse betreffen auch Partnerschaften. Das Leben ändert sich ständig, es verändert auch uns und unseren Partner – was viele Vorteile hat, weil das einem Stillstand und Langeweile vorbeugt. Gleichzeitig bedeutet das, dass Nähe immer wieder neu erarbeitet und hergestellt werden muss – und, dass Phasen, in denen du und dein Partner einander fremd vorkommen, nicht bedeuten, dass die Beziehung am Ende ist. Vielmehr ist dieses Gefühl ein Warnzeichen: Es wird Zeit, sich mal wieder bewusst aufeinander zu besinnen! Zeit, herauszufinden, wo der andere gerade steht und auch mich selbst mit meinen aktuellen Ängsten, Hoffnungen und Herausforderungen einmal intensiv dem anderen zu offenbaren.

Wie geht es dir - wie geht es mir - eine Übung

Dazu können konkrete Fragen helfen wie:
„Was ist zurzeit deine größte Angst?“
„Was belastet dich momentan besonders?“
„Welche Menschen spielen in deinem Leben aktuell eine große Rolle?“
„Welche Veränderung würdest du dir in deinem Leben wünschen?“
„Hat sich für dich in letzter Zeit etwas geändert?“
„Wie geht es dir in unserer Beziehung? Im Alltag, emotional und sexuell? Was würdest du gern ändern?“ Zuerst beantwortet einer alle Fragen und der andere hört aufmerksam, ohne zu urteilen, zu und dann wird getauscht. Nehmt euch Zeit für dieses Gespräch und versucht, dem Partner mit echter Offenheit zuzuhören. Überlegt, ob die Entwicklung auch mit einem Mangel an gemeinsamer, intensiver Paarzeit zusammenhängen könnte. Reserviert z.B. einen festen gemeinsamen Abend pro Woche und füllt ihn mit etwas, was euch beiden gut tut: Ein schönes Essen, ein Tanzkurs, ein Spieleabend, gemeinsamer Sport oder auch mal ein Film … Hauptsache, ihr nehmt euch Zeit und stellt euch aufeinander ein. Wichtig ist, einander jenseits des ganzen „Kinderkram“ zu begegnen und zu erfahren: Wie geht es dem anderen gerade?

Flaute im Bett?

Gespräche sind bekanntlich nicht die einzige Form der Kommunikation in einer Partnerschaft. Sie sollten dazu gehören, doch manchen Menschen fällt es schwer, tiefe Gefühle in Worte zu fassen. Daher ist es wichtig, auch praktische Unterstützung, Geschenke, zärtliche Berührungen oder Erotik als gleichwertige Kommunikationsformen anzuerkennen und zu pflegen.
Wenn die Entfremdung auch mit einer Flaute im Bett einhergeht, beginnt doch einmal damit, euch eine Woche lang bewusst jeden Tag eine Zeit lang zärtlich zu berühren – Streicheln, Massieren, Kraulen, alles ist erlaubt, aber kein Sex! Das kann helfen, Berührungen wieder intensiver wahrzunehmen und zu genießen und das Begehren zu steigern. Ebenfalls hilfreich ist es, wenn beide Partner einmal unzensiert aufschreiben, was sie im Intimleben vermissen und, was sie sich wünschen würden. Schreibt erst einmal alle Phantasien auf – auch solche, die ihr wirklich nur im Kopf genießt und im wirklichen Leben (noch) nicht umsetzen wollt. Dann überlegt, was ihr davon eurem Partner anvertrauen könnt (seid mutig!) und notiert das ebenfalls. Tauscht die Notizen aus und sprecht offen darüber, welche Veränderungen und Experimente ihr euch beide vorstellen könntet.

Schöne Erinnerungen helfen

Es kann helfen, sich in solchen Phasen daran zu erinnern, was dich mit deinem Partner verbindet. Betrachtet alte Fotos, sprecht über Abschnitte eures gemeinsamen Lebens und bewundert gemeinsam, was ihr bereits miteinander gemeistert habt. Erinnert euch an die Zeit der Verliebtheit, den ersten gemeinsamen Urlaub, an „euer Lied“. Dem momentanen Gefühl der Entfremdung stellt ihr dadurch das Gefühl der Zusammengehörigkeit gegenüber. Denn Partnerschaften bestehen stets aus beiden Elementen: Erfahrungen von Harmonie, Zusammengehörigkeit und Seelenverwandtschaft – und der Erkenntnis, dass wir den anderen doch nie ganz durchschauen: „Wir sind doch manchmal ziemlich unterschiedlich!“ oder „Da hätte ich aber etwas anderes von dir erwartet“. Und es ist gut, dass beides dazu gehört, denn sonst würde schnell Langeweile aufkommen. Vielleicht würden wir uns emotional sicher fühlen, aber früher oder später würden wir uns vermutlich nach Entwicklungspotenzial sehnen. Und auch Erotik lebt vom Unbekannten und würde von einer zu großen Nähe und Harmonie auf Dauer erstickt werden. Deshalb sind Phasen, in denen du dich von deinem Partner weit entfernt fühlst, eine Chance, eure Beziehung weiterzuentwickeln. 

Ein Tipp zum Schluss: Liebe ist auch "Kopfsache"

In seinem Klassiker „Die Kunst des Liebens“ beschreibt der Psychoanalytiker Erich Fromm sehr eindrücklich, dass Liebe weit mehr ist als ein Gefühl. Verliebtheit, Schmetterlinge im Bauch – ja, das sind die starken Gefühle zu Beginn einer Beziehung. Liebe dagegen ist auch Kopfsache. Sie wächst, wenn neben dem Bauch auch der Kopf beteiligt ist. Erich Fromm beschreibt Liebe als eine ganz bewusste Entscheidung, den anderen Menschen lieben zu wollen. Und diese Entscheidung zieht dann viele andere Entscheidungen nach sich – bei der Terminplanung zum Beispiel. Das Schöne an diesem Blickwinkel: die Liebe kommt euch nie völlig abhanden, sondern ihr könnt euch immer wieder neu dafür entscheiden – im besten Fall sogar jeden Tag.

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